Ich bin heute 23 Jahre alt, habe 2 jüngere Geschwister. Eine Schwester und einen Bruder und doch fehlt da noch einer, dass wir komplett wären oder sind. Wir hätten nämlich alle noch einen älteren Bruder, der aber leider nie seinen Geburtstag feiern dürfte. Im Februar 2021 wäre er 26 Jahre alt geworden.
Ich habe mir immer einen großen Bruder gewünscht, vielleicht weil ich immer die Älteste war, oder auch weil ein Teil von uns (vielleicht auch von mir selber?) gefehlt hat. Manchmal habe ich mir gewünscht, auch mal ein großes Geschwisterchen ärgern zu können, dass mich eins in den Arm nimmt, beschützt, mir bei den Hausaufgaben hilft und mich, wenn ich nerve aus seinem Zimmer schmeißt. Ich frage mich auch, ob er zu mir gekommen wäre, wenn ich nachts weinend zuhause angerufen habe, wenn mir gerade das Herz gebrochen wurde. Ob er wohl mit Papa mitgefahren wäre? Ob er mich getröstet hätte? Oder sich meinen damaligen Freund vorgeknöpft hätte, wie es große Brüder eben oft so machen?
Meine Mama hat nie ein Geheimnis aus meinem Bruder gemacht, allerdings wurde lange Zeit darüber hauptsächlich geschwiegen. Bis ich 20 war um ehrlich zu sein.
Ich habe mir als Kind immer vorgestellt, dass wenn ein Baby im Bauch der Mama verstirbt, dass das Kind, dass danach kommt dieselbe Seele ist, die nochmal eine Chance bekommt. Im Prinzip, dass ich eigentlich mein großer Bruder bin, bzw. mir die Seele mit ihm teile, aber früher war unser Sternchen nicht greifbar für mich, da wir eben kaum darüber geredet haben. Inzwischen bin ich von dieser Vorstellung zwar abgekommen, aber ich glaube fest daran, dass mir mein Bruder einen Teil von sich mitgegeben hat.
Ich war ein schwieriger Teenager. Mit Mama habe ich mich oft gestritten. Heute frage ich mich manchmal: Habe ich den Mist, den mein Bruder gebaut hätte einfach gleich für Ihn mit gebaut? Ich wollte sehr früh schon sehr unabhängig sein, war es vielleicht der ältere Bruder, der ausreißen wollte? Ich kann es zwar nicht sicher sagen, allerdings fühlt es sich so an, wie wenn er immer dabei gewesen wäre. Wie wenn mich jemand dabei begleitet, stellenweise sogar angestachelt hätte. Davon habe ich Mama allerdings nie etwas erzählt, weil ich Sie zum einen nicht verletzen wollte und zum anderen Angst hatte, das Andenken meines Bruders damit irgendwie herabzusetzen, obwohl es doch so wichtig ist, dass wir Geschwister, wir Folgewunder, auch gehört werden.
Das Verhältnis zu Mama hat sich erst stark geändert, als wir während einer meiner Mittagspausen im Jahr 2018 die ganze Stunde durchtelefoniert hatten. Sie hatte zu der Zeit schon eine Weile für Sternenzauber & Frühchenwunder genäht und immer wieder sind kleine Details und auch Gedanken zu meinem Bruder aus ihr rausgekommen. An diesem Tag, erzählte Sie mir zum Beispiel, dass sie die Kleidung näht, damit andere Kinder auf ihrem letzten Weg nicht frieren müssen und auch der Gedanke „Wenn mein Sternchen nicht mehr frieren muss“ Sie, wenn Sie dabei geweint hat vorangetrieben hatte.
Mama hatte nichts von ihm. Nur die Erinnerung. Keine Geburtsurkunde. Kein Grab als Trauerplatz. Nichts. Und während Mama mir so am Telefon davon und von meinem Bruder erzählte, den Sie selber nie sehen konnte, da in den Neunzigern mit Frühaborten noch ganz anders umgegangen wurde als heute, in Tränen ausbrach, war mir klar, dass dies nicht so weiter gehen konnte. Wir durften nicht mehr schweigen! Auch ich durfte nicht mehr schweigen.
Am nächsten Tag hatte ich frei. Ich habe seit dem frühen morgen abgewägt, was ich tun könne und ob ich das tun sollte, bis eine Stimme in mir sagte: Tu es einfach! Ich rief beim Bestatter an, der uns Jahre zuvor bei der Bestattung meiner Oma begleitet hatte. Er kennt meine Eltern gut. Papa und er hatten jahrelang zusammen gearbeitet. Ich schilderte ihm die Situation und fragte ihn, ob es die Möglichkeit gibt, dass mein großer Bruder einen Grabstein auf dem Friedhof bekommt. Ich wusste zwar, dass man ihn 23 Jahre später nicht mehr beisetzen konnte, aber dass es wenigstens einen Ort gibt zu dem wir gehen können. Er meinte, es ist eine schöne Idee und er wäre sofort dabei und würde das tun, allerdings müsse ich das mit der Friedhofsverwaltung abklären. Also habe ich kurzerhand dort angerufen, allerdings meinte der Mann, dass ich mit dem Vorgesetzten darüber sprechen müsse, welcher aber gerade leider nicht im Haus war. Er notierte sich meine Nummer und versprach mir, dass ich bald einen Rückruf erhalte. In der Zeit habe ich mit meinem Sohn gespielt. Es war nicht mal eine Stunde vergangen als ich den Rückruf erhalten habe. Ich habe auch ihm nochmal alles erklärt. Er meinte zu mir, dass das leider nicht möglich sei. Er erzählte mir aber, dass es auf dem Friedhof ein Schmetterlingsgrab gäbe, auf dem alle Frühchen aus dem Krankenhaus, wenn nicht anders von den Eltern gewünscht, beigesetzt werden. Dieses Grab, oder auch dieses Denkmal ist für alle Eltern, Geschwister und Angehörige verstorbener Kinder gedacht. Ich habe lange mit Ihm telefoniert und mit Ihm besprochen, vorher schon mal hin zu fahren und meine Mama langsam drauf vorzubereiten. Daraufhin habe ich mit Papa geredet, da ich überhaupt nicht wusste wie Mama reagieren würde. Würde Sie sich freuen? Würde es eine Wunde aufreißen? Er hat Ihr davon berichtet und Sie darauf vorbereitet. Ihr erzählt, was ich da „angestellt“ hatte.
Ich bin mit meinem Mann vorab zu dem Schmetterlingsgrab gefahren. Dort angekommen sind die Tränen nur so gekullert. Und auch eine tiefe Verbundenheit, eine Vertrautheit habe ich gespürt. Es war, wie wenn jemand „Danke“ sagen würde. Danach ging es direkt zu Mama und Papa. Ich erzählte von dem Schmetterlingsgrab und wir weinten noch mehr. Endlich, das Schweigen war gebrochen!
In der Woche darauf waren Mama und ich gemeinsam unterwegs. Wir waren in der Nähe des Standesamts des Ortes, an dem mein Bruder auf die Welt kam. Es war, wie wenn jemand hinten auf der Rückbank sitzt und sagte: „Gebt mir endlich einen Namen! Ich will endlich einen Namen!“. Und so war das getan. Wir sind hingefahren. Mama hatte ihren Mutterpass von der Schwangerschaft mit mir dabei, weil sie mir den einzigen Nachweis über die Existenz meines Bruders zeigen wollte. Als es vor Ort hieß, die Standesbeamtin wisse nicht, ob der Mutterpass ausreichend ist und sie Papa mit eintragen kann (Sie war eine Vertretung) hat da jemand an Mamas Ärmel gezupft und gesagt „Dann benenn mich wenigstens nach Papa!“. Und so wurde er mit dem Namen Peter Michele (Peter nach meinem Opa und Michele nach meinem Papa) ins Stammbuch eingetragen. Die Standesbeamtin wischte alle Unsicherheit zur Seite und trug auf Wunsch von Mama, meinen Papa als Papa von Peterchen ein. Mein Papa sagt immer, unser Sternchen ist ebenso sein Kind, auch wenn er nicht der Erzeuger ist.
Als Mama mir im Auto erzählt hatte, dass da dieses Ärmelzupfen war, war mir klar, Peter war da! Er war immer da! Wir haben einfach nur zu lange weggehört und weggesehen, wenn er unseren Schutzengel gespielt hat, denn bei einigem was so passiert ist, wie z.B. unserem Wohnungsbrand Jahre vorher, war es ein Wunder, dass wir alle lebend davongekommen sind. Heute weiß ich, dass das kein Zufall war. Das warst du, Peter! Ich bin froh, endlich auch was als kleine Schwester für dich getan haben zu können, so wie du es Jahrelang für uns getan hast. Ich bin mir sicher, du als Sternchen und ich als Regenbogenkind oder Folgewunder, wir sind ganz tief miteinander verbunden.
Seither versuche ich Mama bei so vielen Terminen zu begleiten, wie es nur möglich ist. Zum einen, weil wir endlich so viel Zeit miteinander verbringen können und zum anderen, weil ich so den Teil, den mein Bruder mir mitgegeben hat, vielleicht auch an Mama weitergeben kann.
Manchmal wünschte ich mir, dass nicht nur Sterneneltern, sondern auch wir Folgewunder und auch alle anderen Geschwister sich austauschen könnten, denn ich kenne niemanden in der selben Situation. Und ich würde mich so gerne mit anderen trauernden Geschwistern austauschen, denn der Austausch ist so wichtig. Unsere Familie hat das Reden enger zusammengerückt und zusammengeschweißt. Reden kann alle unsere Wunden etwas erträglicher machen, auch wenn sie nie heilen werden. Liebe Folgewunder, wo seid ihr, was ist eure Geschichte?
2 Gedanken zu “Ich bin ein Folgewunder!”
Hier ist noch ein Folgewunder! Ich verstehe die Situation so gut. Mir fehlt auch der Austausch mit anderen, ich kenne ebenfalls niemanden persönlich, der sein Geschwisterkind auch zu den Sternen ziehen lassen musste.
Meine große Schwester und ich sind uns sehr nah, obwohl wir in zwei Welten leben. Ich habe erst mit 13 erfahren, dass ich kein Einzelkind bin, sondern eine große Schwester bei den Sternen habe. In Situationen, in denen ich Angst habe, vor denen ich mich fürchte, begleitet sie mich, wenn ich traurig bin, weil ich etwas nicht geschafft habe, tröstet sie mich. Und ich schreibe für sie Musik, backe ihr einen Geburtstagskuchen und denke an sie. Andere belächeln mich meist dafür, aber das ist mir egal. Weil es mir hilft und Kraft gibt. Weil ich sie so unendlich liebe. Ich liebe dich, mein Engel. Für immer Schwestern.
Vielleicht gibt es irgendwie ja die Möglichkeit, eine Gruppe für Geschwister von Sternchen einzurichten. Ich glaube, es gibt noch sehr viele andere Menschen auf dieser Welt, die um ihr Geschwisterkind trauern, aber nicht offen darüber sprechen. Vielleicht würde es noch vielen anderen Menschen helfen, mit anderen Geschwistern über ihr Sternengeschwisterkind zu reden…
Liebe Lotta,
Ich finde es so schön, dass du so eine enge Bindung zu deiner großen Schwester spürst.
Wenn dich wirklich Leute dafür belächeln, lass sie reden und mach es wie es für dich richtig ist.
Ja es ist tatsächlich sehr schade, dass es keine Gruppen für erwachsene Geschwisterkindern von Sternchen gibt.
Die Idee ist toll. Vielleicht hast du irgendwann den Mut eine solche Gruppe zu gründen. Wenn es so ist, erzähl uns gerne davon.
Viele Grüße,
Sarah